*** Irgendetwas hatte mich geweckt. Mühsam öffnete ich die Augen und stellte verwundert fest, dass alle Lichtkegel im Raum eingeschaltet waren. Eigenartig. Ich war mir völlig sicher, dass ich sie vor dem Einschlafen ausgeschaltet hatte.
„Sei gegrüßt, Kolja“, vernahm ich eine vertraute Stimme neben mir.
Überrascht wandte ich den Kopf zur Seite: „Pankraz? Du?“
Er schmunzelte und zupfte vergnügt an seinem Schnauzbart herum. „Sieh mich nicht an, als wäre ich ein Geist. Ich habe einen Eilauftrag für dich, darum musste ich dich so unsanft wecken.“ Mit einem breiten Grinsen im Gesicht musterte er meine mit bunten Fischen bedruckte Schlafkleidung.
Ich ignorierte seinen belustigten Blick. „Nun sag schon, was ist das für ein Auftrag?“ Mein Herz klopfte erwartungsvoll.
„Unser Bestand an heiligem Wasser ist fast aufgebraucht. Du musst wieder runter auf die Erde fliegen, um die Tanks aufzufüllen.“
Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden, vor Freude.
„Freu dich nicht zu früh“, warnte er eindringlich, „denn dieses Mal wirst du mit Eskorte hinunter fliegen: Arestus und Karbon werden dich begleiten.“
Ich erstarrte. „Kyras Leibgarde!“
Er nickte mitleidig. „Sie hat darauf bestanden, dass die beiden jeden deiner Schritte überwachen. Damit du nicht wieder, wie beim letzten Mal, auf die Idee kommst, es dir da unten gemütlich zu machen. Aber trotz deiner Verfehlung bist du nun mal der beste Mann für diesen Job, sagt Kyra. Und jetzt steig endlich aus der Schlafkoje, es ist höchste Zeit, das Spider-Ship ist schon startbereit.“
„Oh, nein, nicht schon wieder mit diesem alten Rumpel-Schiff!”
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Das Spider-Ship rappelte und dröhnte, schüttelte uns durch auf diesem Flug durch Raum und Zeit. Ich fühlte mich unwohl dabei. Denn Karbons äußerst bescheidene Flugkünste waren mir ebenso gut bekannt, wie die Eigenmächtigkeit, die das alte Schiff unerwartet an den Tag legen konnte. Ich hatte starke Bedenken ob wir jemals sicher auf der Erde ankommen würden und faltete heimlich schon mal meine Hände, zum letzten Gebet.
„Es ist Zeit, zieh dich um“, brummte Arestus mir übellaunig zu.
Gehorsam zog ich die „Fellachen-Kleidung“ an, die Kyra nach Bildern der Überlieferung hatte anfertigen lassen. Für den Fall, dass ich von Einheimischen gesehen wurde, würde ich so kein Aufsehen erregen.
Als das Spider-Ship hinter dem Palmenhain aufsetzte, atmete ich erleichtert auf.
„Okay, Kolja. Raus mit dir. Und denk dran, wir haben dich genau im Auge!“ Arestus wies in seiner typisch arroganten Manier mit seinem Kopf zu einem kleinen Bildschirm, an dem Karbon gerade die nötigen Einstellungen vornahm.
Ich nickte, öffnete die Luke und trat hinaus.
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Die Kühle der Nacht drang in meine Lungen. Ich atmete mehrmals tief ein und aus. Was für eine herrlich klare Luft! Mit geübten Handgriffen entsicherte ich im Dunkeln den Laderaum, öffnete die Spule, entnahm ihr den eingerollten Schlauch und hängte ihn um eine Schulter. Nachdem ich den Saugschlauch vorschriftsmäßig an den ersten der sechs leeren Wassertanks angeschlossen hatte, pirschte ich mich so leise wie möglich an den Fluss heran, watete einige Meter hinein, senkte den Schlauch ins Wasser und schaltete die Saugvorrichtung ein. Sofort spürte ich das schon vertraute Vibrieren in den Händen.
„Nil“ nannte Kyra dieses Gewässer und laut unseren Überlieferungen war es ein „heiliger Fluss“, weil sein Wasser heilende Kräfte hatte. Schon oft hatte ich mich gefragt, ob es tatsächlich die Kraft dieses Wassers war, die die Lungenkrankheit von uns Marsianern eindämmte, oder ob vielleicht nur der Glaube daran, dass das Wasser aus dem Nil heilende Kräfte hatte, diese Linderungen bewirkte. Ich traute mich aber nicht, diesen Gedanken laut auszusprechen, denn damit würde ich mir Kyras Zorn zuziehen.
Über mir sah ich die Sterne am Himmel funkeln. Ihr sanftes Licht legte ein geheimnisvolles Glitzern über das Wasser. Sehnsüchtig warf ich einen Blick in die Ferne.
Bei meinem letzten Besuch hier hatte ich mich dazu hinreißen lassen, nach dem Füllen der Tanks die Tarnglocke über dem Schiff einzuschalten, um eine ausgedehnte Wanderung ins Landesinnere zu unternehmen. Bei Tagesanbruch hatte ich mich neugierig unter die Einheimischen gemischt, mir die vielen appettitlichen Früchte angesehen und die köstlichen Düfte eingeatmet von gebratenem Fleisch, frisch gebackenem Brot und starkem Kaffee. Diese Lebensmittel gab es, in dieser Form, nicht bei uns auf dem Mars. So hatte ich mich damals verliebt in dieses Land, dass Kyra „Ägypten“ nannte.
Ich konnte nicht verstehen, warum unsere Vorfahren das Leben auf der Erde kampflos aufgegeben hatten und auf den Mars geflüchtet waren. Terror und Angst, so hieß es in den Überlieferungen, gehörten damals zum Leben wie das tägliche Essen. Als meine Vorfahren die Flucht zum Mars angetreten hatten, waren sie sich völlig sicher gewesen, dass ihre heimlich entwickelten Technologien ihnen genug Sauerstoff verschaffen würden, um auf dem Mars ein normales Leben führen zu können. Aber sie hatten nicht damit gerechnet, dass ihr sorgfältig ausgeklügeltes System das Leben auf dem Mars zwar möglich machten, aber die Bewohner fortan ihr Leben lang mit schweren Lungenkrankheiten zu kämpfen haben würden. – Wenn ich es mir hätte aussuchen dürfen, dann wäre ich lieber auf der wohlriechenden Erde, als auf dem stickig dampfenden Mars geboren worden. Ich hätte es gerne in Kauf genommen, dass mir ein von Angst beherrschtes Leben beschieden gewesen wäre, hätte um mein Dasein gekämpft und dafür meine Lungen mit dieser wunderbar frischen Luft füllen können, die den Kopf so klar und das Herz so weit machte.
Ein leises Piepsen drang an mein Ohr. Der erste Tank war voll. Ich schaltete schnell den Melder aus und blieb einen Moment lang regungslos stehen. Nichts bewegte sich rundherum. Kein Ton war zu hören. Dann ging ich vorsichtig den Weg zurück und klemmte den Saugschlauch an den nächsten Tank an.
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Die zwei Stunden, die für das Abfüllen nötig waren, vergingen mir viel zu schnell. Schon war der Zeitpunkt des Abschieds gekommen.
Schweren Herzens wickelte ich den Schlauch wieder auf die Spule und sicherte dann den Laderaum von außen ab, mit so langsam behäbigen Bewegungen, als wenn ich die Zeit damit aufhalten könnte. Es widerstrebte mir, ins Schiff zu steigen und wieder nach Arche-Town zurück fliegen zu müssen. Wie leicht wäre es gewesen, jetzt einfach drauflos zu laufen und ins Landesinnere zu fliehen! Die Tanks waren voll, die Mission somit erfüllt. Deshalb würden sich Arestus und Karbon nicht die Mühe machen, mich wieder einzufangen. Sie würden Kyra irgendeine üble Geschichte über mich auftischen und sich selbst als Helden darstellen.
Aber ich musste auch an meine kleine Schwester denken. Seit dem Tod unserer Eltern war ich verantwortlich für Ellin. Urplötzlich ergriff ein Gedanke von mir Besitz, entzündete ein Licht in meinem Kopf: … Vielleicht wäre es ja möglich, zusammen mit Ellin auf die Erde zu fliehen?…
„Von mir aus kannst du hier Wurzeln schlagen“, hörte ich Arestus´ feindselige Stimme hinter mir, „wir fliegen jetzt zurück, Kolja. Entweder du steigst jetzt ein – oder bleibst, wo der Pfeffer wächst!“
`Das könnte dir so passen, Arestus´, dachte ich zornig und schluckte die spitze Bemerkung stumm hinunter.
Ich ließ noch ein letztes Mal meinen Blick über den silbrig glänzenden Nil gleiten. Ein Gefühl der Zuversicht machte sich in mir breit. Ja, ich war mir sicher, mit guter Vorplanung könnte die Flucht glücken. Sie musste! … Schon bald würde die Zeit kommen und ich würde für immer hier bleiben, mit meiner kleinen Schwester. In Ägypten, dem Land des heiligen Wassers…
Mit einer nie gekannten Vorfreude im Herzen stieg ich ins Spider Ship ein.